Kirchhellen

Der schwarze Mercedes

Eine Kolumne von Stina Schulzke

Kirchhellen -

Ist Ihnen eigentlich schon einmal diese schwarze Mercedes A-Klasse mit dem Essener Kennzeichen aufgefallen, die hier fast täglich verdächtig ihre Runden dreht? Meist so Richtung Brauhaus unterwegs, oder auch im Wenkendiek… Das bin ich!

Naja, nicht nur ich. Da ich keinen Führerschein habe, aber Autofahren zu einer der größten Konfrontationsmaßnahmen meiner Therapie gehört, sitze ich fast jeden Tag mit meinem Freund zusammen im Auto und versuche meinen Wohlfühl-Radius ein Stückchen mehr zu erweitern.

Vor zwei Jahren kam ich bis zum TC „In Himmel“ und habe im Herbst meine Kürbisse bei Miermann gekauft. In die andere Richtung konnte ich problemlos bei Café Haus Pels sinnlos auf einem Stuhl rumsitzen, da ich mit der Essstörung noch eine ganz andere Schlacht zu führen hatte… Aber sinnlos rumsitzen kann auch schön sein! Mit Corona sind die Ängste gestiegen und der Radius hat sich verkleinert. Anfang dieses Jahres kam ich nur noch exakt bis zu dem Spielplatz vor meiner Haustür….

Und dann kam der schwarze Mercedes! Er ist klein, er ist schwarz UND… er hat TÜV bis 2024! Nichts schreit so sehr „Auto für Frauen mittleren Alters“ wie mein kleiner schwarzer Mercedes und ich liebe ihn! Auto-Touren gehören zu den absoluten Höhepunkten meines Tages und sind eine willkommene Abwechslung zu meinen kleinen vier Wänden! Eine gute Konfrontationstherapie will jedoch durchdacht sein! Gerade, wenn wir versuchen, meinen Radius zu erweitern, ist die Ablenkung mein bester Freund! Und so steige ich jeden Tag ins Auto mit einer neuen verrückten Aufgabe, um die gute Laune zu steigern und die Angst zu senken.

Die Aufgaben müssen dabei gar nicht kompliziert sein. Es reicht, wenn sie mich beschäftigt halten! Vor einer Woche musste ich eine Playliste auf Spotify zusammenstellen mit den besten Hits von den 1970er Jahren bis zu den 2000er Jahren. Ist ja gar nicht so schwer, denken Sie jetzt!? Ist es auch nicht, aber ich bin eine notorische Mitsängerin und spätestens als ich in den 90ern angekommen war und über Pur und Nena gestolpert bin, gab ich das Auto-Konzert meines Lebens und besang Passanten an der Ampel!

Dank mangelnder Sozialkompetenzen und jahrelanger Isolation habe ich auch jegliches Gefühl für Scham und Schande verloren… Gestern standen wir vor der Ampel zur Gartenstraße neben einem Bus und ich habe fröhlich mit einem Buspassagier im Fenster gegenüber zu der Melodie von „Rapunzel neu verföhnt“ gevibed! Als ich mich das erste Mal nach fast zwei Jahren wieder ins Auto gesetzt habe, um mich mit meinen Ängsten zu konfrontieren, war ich sehr nervös. Aber heute sitze ich jeden Tag darin und liebe es, durch Kirchhellen zu fahren und könnte jedes Mal weinen vor Freude, wenn mir von einem Nachbarn, einem Freund oder auch einem Fremden im Bus zugewunken wird!

Konfrontationstherapie ist hart, aber auch hier schafft es Kirchhellen eine kleine ängstliche Kolumnistin weiter nach vorne zu bringen! Und wenn sie das nächste Mal die schwarze Mercedes A-Klasse sehen… winken Sie ruhig.

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Stina Schulzke

Stina Schulzke

s.schulzke@aureus.de

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