Kirchhellen

Stirb als Held oder lebe lange genug, um der Schurke zu werden

Eine Kolumne von Stina Schulzke

Kirchhellen -

In den letzten Wochen durfte ich nicht nur feststellen, dass ich meine Angststörung ein gutes Stück weiter im Griff, sondern mich selbst auch entwickelt habe. Und mit großem Entsetzen musste ich feststellen… Ich bin alles geworden, was ich immer gehasst habe!

Die Anzeichen waren zuerst klein und kaum wahrnehmbar… Ich dachte darüber nach, mich wieder etwas zu schminken. Denn Fremdstoffe auf und in meinem Körper sind kein so großes Problem mehr. Ich googelte nach Produkten, die Tierversuchsfrei und mit möglichst natürlichen Inhaltsstoffen sind… ziemlich seltsames Verhalten für ein Mädchen, das 15 Jahre lang billigstes Make-Up benutzt hat, weil: „Ist ja eh alles das gleiche und wer mehr zahlt, ist selbst schuld“

Aber die Anzeichen wurden stärker! Ich habe jetzt einen Lieblings-Weichspüler! Er ist hellblau, milchig und ich erwische mich dabei, wie ich enttäuscht bin, wenn mein Freund den Grünen vom Einkaufen mitbringt, weil er nicht nach frischer Meeresbrise duftet.

Der Schock übermannte mich, wie der warme Dampf meines 65 Euro-Bügeleisens, das ich mir gekauft habe wegen der besseren und umweltfreundlicheren Funktionen, die jetzt auch das Hemdenbügeln zu einem wahren Vergnügen machen!

Ich nahm mein Handy und öffnete meine Pinterest-Pinnwand… Nichts sagt dir so ehrlich ins Gesicht, wer du bist, wie deine Pinterest-Pinnwand… Es ist wahr! Einfach alles! Ich bin zu einer halbwegs emanzipierten, umweltbewussten Zimmerpflanzen-Gärtnerin geworden, die in ihrer Freizeit strickt und „coole Kochrezepte“ raussucht. Kurzgesagt… ich bin Basic! Was so viel bedeutet wie: ich bin das absolute Klischee einer Millennial-Frau in ihren Ende Zwanzigern geworden.

Ich hielt einen Moment inne… Mir wurde das erste Mal so richtig bewusst, in welche Richtung ich mich entwickele und in was für einem starken Widerspruch es zu dem steht, was ich mir als Teenager für mich gewünscht habe. Bevor die Angststörung in mein Leben trat.

Was konnte ich anderes dazu sagen als: ENDLICH!!! Ich habe es ENDLICH geschafft! Ich bin nicht nur halbwegs normal geworden, sondern konnte auch aus den toxischen Erwartungshaltungen eines psychisch kranken Teenagers flüchten! Spießer sein rockt! Ich liebe es meine 08/15 Monstera-Pflanze am Leben zu halten und mein Lieblingswaschmittel einzukaufen!

Was gibt es Schöneres als sich jeden Tag zu fragen: „Was esse ich heute“, während man am PC seinen 9to5-Job erledigt, um noch mehr Zimmerpflanzen kaufen zu können! Vielleicht lebe ich nicht das Leben, das ich mit 17 leben wollte, aber ich lebe das Leben, das mich glücklich macht. Auch wenn das mein vergangenes Ich zum Bösewicht macht.

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Stina Schulzke

Stina Schulzke

s.schulzke@aureus.de

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