Der Nachlass
Jonas Winner, Heyne Verlag, 12,99 Euro, Rezension von Kathrin Allkemper
Kurz vor Ihrem Tod möchte Hedda Laurent noch einmal alle um sich versammeln. Sie ruft die ganze Familie an ihr Sterbebett und so trudeln nach und nach ihr Bruder und ihre vier Kinder mit Partnern und Kindern in der Villa in Berlin ein. Hedda hat zwei Söhne und zwei Töchter, wobei sich Sohn Theo gleich im Alter von 18 Jahren aus den Fängen der Familie gelöst hat und nun nach 30 Jahren als überzeugter Single erstmals zurückkehrt. Sein Bruder Jannick hat sich dagegen eine Familie wie aus dem Bilderbuch geschaffen und den Eltern nachgeeifert. Auch die Töchter haben sehr unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Es gibt also nicht nur Wiedersehensfreude unter den Geschwistern, sondern auch reichlich Spannungen.
Als nach Heddas Tod nun das Testament eröffnet wird und es um einen Nachlass von rund 75 Millionen Euro geht, werden diese Spannungen nicht weniger, zumal laut Testamentsverwalter nur einer von Ihnen alles erben wird. Insgesamt sollen sie 27 Aufgaben lösen, um am Ende an das Geld zu kommen. Zunächst beginnt es noch mit ganz harmlosen Dingen, aber irgendwann fragen sich alle, warum ihre Mutter so etwas von ihrer Familie verlangt. Hat sie ihre Kinder etwa so gehasst? Und welches Geheimnis teilen Vater und Onkel miteinander? Das Spiel wird immer gefährlicher und die Anzahl der Mitspieler stetig weniger...
Kleine Fluchten
Carole Fives, Paul Zsolnay Verlag, 19 Euro, Rezension von Daniela Maifrini
Der Liebe wegen war die junge Frau (ohne Namen) mit ihrem Freund von Paris nach Lyon gezogen. Man mietete eine schöne Wohnung, die Frau wurde schwanger und alles schien perfekt zu sein. Doch dann verabschiedet sich der Mann und löst sich in Luft auf, das Kind, ein kleiner Junge (ebenfalls namenlos), bleibt bei seiner Mutter. Der Vater sieht sich nicht bemüßigt, seiner Unterhaltsverpflichtung nachzukommen, sodass die junge Frau zusehends auch finanziell unter Druck gerät.
Sie ist Webdesignerin, war früher auch sehr erfolgreich, doch die Vereinnahmung durch das sehr fordernde Kleinkind führt dazu, dass sie Termine nicht halten kann und immer wieder versagt. Sie muss um Jobs betteln und kann sich und den Jungen kaum über Wasser halten. Sie liebt ihren Sohn – das steht völlig außer Frage – aber das Leben, das ihr aufgezwungen wird, ist einfach nur die Höchststrafe: Eine Stadt, in der sie niemanden kennt, der berufliche Niedergang, finanziell am Ende, kein Kita-Platz in Sicht und dazu der völlige Verlust persönlicher Freiheit – das ist einfach nicht auszuhalten. All ihre Versuche Unterstützung zu finden, scheitern kläglich.
Hilfe sucht sie auch vergeblich in Internetforen für Alleinerziehende, wo sie ihre Situation schildert. Doch nach dem zu urteilen, was sie als Antworten auf die Schilderung ihrer Probleme bekommt, ist sie die einzige Frau, die diese mörderische Grätsche zwischen Kind, Arbeit und eigener Person nicht hinbekommt. So „erschleicht“ sie sich mit ihren kleinen Fluchten einen zunächst winzigen Freiraum, in dem sie das schlafende Kind allein lässt und für eine anfangs kurze Zeit, später für immer längere Perioden nachts das Haus verlässt, um zu sich zu kommen. Und irgendwann bleibt sie die ganze Nacht weg...
„Dieser schmale Roman hat mich ab Seite Eins vollkommen gepackt, allein durch die lakonische Sprache, in der die Autorin diese Hölle auf Erden schildert! Diese Reduktion einer Frau auf die „Mutter-Rolle“ (im wahrsten Sinne des Wortes!), die Entwürdigung, die durch emotionale und finanzielle Notlagen entsteht bei gleichzeitig ständigem „Versagen“, weil man dem gängigen Rollenbild nicht gerecht wird – das war wirklich starker Tobak! Und durch die in keiner Weise vorhersehbare Entwicklung entsteht auch noch eine Spannung, die mit jedem Psycho-Thriller mithalten kann. „Kleine Fluchten“ ist ein Buch, das ich sicher niemals vergessen werde, und das meine Hochachtung vor alleinerziehenden Elternteilen, besonders vor denen, die über geringere finanzielle Mittel verfügen, einmal mehr steigert“, findet Daniela Maifrini von der Humboldt-Buchhandlung.